Zum Buch:
Atlas, der alte Titan, wurde zum Namensgeber für alles, was außerhalb und innerhalb des Menschen liegt, vermessen und erkannt worden ist. Fioretos hat mit diesem Titel seine Fallgeschichten über Seele, Körper und Weltwahrnehmung zu einem Diskurs verbunden. Hier werden Porträts der Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert gezeichnet, es blitzen Schlaglichter der damaligen neurologischen und naturwissenschaftlichen Forschung auf; auch Tiefgründiges und Anschauliches über Leben und Tod und die Liebe ist darin zu finden. Eine spannende, kostbare Sammlung.
Nelly Becker, erste Pilotin Deutschlands, hat in ihrem Leben alle denkbaren Erkenntnisse über das Phänomen der Gänsehaut gesammelt. Zu Beginn mag es eine Rolle gespielt haben, dass der Vater ihr schon als Kind von der „fürchterlichen Gänsehaut“ erzählte, die der Anblick des Revolvers bei ihm auslöste, der sich Zeit seines Lebens in seiner Schreibtischschublade befand. Doch je älter sie wurde, umso mehr interessierte sie sich auch für andere Beobachtungen am eigenen Körper, etwa die Auswirkung eines in ihrer unmittelbaren Nähe eingeschlagenen Blitzes oder die Sensationen ihrer Zunge, wenn sie sie auf die Ader in der Armbeuge einer Freundin presste.
In diesen und anderen Geschichten verknüpfen sich körperliche Befindlichkeiten, Wahrnehmungen und andere seelische Fähigkeiten des Menschen mit der Welt, die ihn umgibt und prägt.
Skizziert werden aber auch Prozesse wissenschaftlicher Forschung. Ganz besonders spannend hier die Entdeckungen Vadim von Kolibars: Bei seinen Zwillingstöchtern, die an der Hüfte aneinandergewachsen geboren worden waren, keine Organe oder Gliedmaßen teilten und deshalb operativ separiert werden konnten, stellt er fest, dass sie nicht nur beim Anziehen, sondern auch in Lernvorgängen die Schwester als Spiegelbild benutzen. Erst kurz vor dem Tod der Mädchen diagnostizierte er zudem eine spiegelbildliche Anordnung der Organe in ihren Körpern.
Ein solches Buch zu schreiben, das sich in jeder Hinsicht gegen den Strich lesen lässt und doch von einem durchgängigen Gedankengeflecht der Beziehung zwischen Innen- und Außenleben getragen wird, ist schlicht genial zu nennen. Die Kapiteltexte eröffnen so viele neue alte Blicke auf die geheimnisvolle Verknüpfung von Seele und Körper und Welt, dass das Innehalten ebenso unabdingbar ist wie das Weiterlesen. Die Textsammlung wird dem Motto der Reihe nur allzu gerecht: Unruhe bewahren.
Susanne Rikl, München