Zum Buch:
In der Romanliteratur ist der erste Satz bekanntlich von sehr großer Bedeutung. Und wenn man etwas skeptisch, aber auch neugierig ein Buch aufschlägt und als allererstes lesen muss: „Neandertaler neigten zur Depression, meinte er. Sie neigten auch zur Sucht und insbesondere zum Rauchen“ – dann kann man sich eigentlich nur verwirrt und verblüfft und sehr neugierig fragen: „Was ist das – Was – ist das?“ Nun, „das“ ist der Anfang von Rachel Kushners neuem Roman See der Schöpfung, und mit diesem ersten Satz bzw. seiner doch etwas verwirrenden Behauptung hatte die Autorin zumindest mich am Haken, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie mich am Ende wirklich vom Haken gelassen hat, denn ein Teil von mir scheint immer noch im See der Schöpfung zu zappeln, wenn ich berücksichtige, wie oft ich über das Buch nachdenke.
Was also ist „das“? Oberflächlich betrachtet ein Agententhriller: Sadie Smith, Ex-FBI-Agentin und jetzt freiberuflich im selben Gewerbe tätig, soll für einen ihr unbekannten Auftraggeber eine Landkommune in Okzitanien ausspionieren, die im Verdacht steht, schwere Baumaschinen abgefackelt zu haben, weil der Bau gewaltiger Wasserbecken für den industriellen Maisanbau den Bauern der Gegend das Grundwasser und damit die Existenzgrundlage entzieht. Um an Pascal, den politischen Kopf der Gruppe, heranzukommen, beginnt sie eine Affaire mit dessen bestem Freund und verschafft sich so ein glaubwürdiges Entrée in der an Spitzel gewöhnten Gemeinschaft. Pascal ist ein linksradikaler Theoretiker aus bestem bürgerlichem Hause, der sich an den Lehren Guy Debords abarbeitet, des Situationisten und radikalen Straßenkämpfers beim Pariser Mai 1968, aber hinter ihm gibt es noch einen weiteren einflussreichen Mann: Bruno Lacombe, Mitbegründer der Kommune und mittlerweile eine Art Guru, der aus seinem Rückzugsort in einer nahegelegenen Höhle Mail-Botschaften an seine Genossen schickt, in denen kaum von Gewalt, aber desto mehr von der Frühgeschichte der Menschheit die Rede ist, wo Bruno nach Alternativen zur vom homo sapiens eingeschlagenen Entwicklung sucht.
Weniger oberflächlich betrachtet ist See der Schöpfung aber ein Ideenroman, der den einzelnen Protagonisten aktuelle Diskurse und Probleme einschreibt, etwa die Geschichte der französischen Linken, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Kampfs gegen den Kapitalismus, die digitale Überwachung, die Selbstzerstörung der Menschheit durch die Klimakatastrophe usw. Etwas viel für ein einziges Buch, könnte man meinen, aber die Autorin, die mit ihrer Ich-Erzählerin und Protagonistin Sadie eine Figur entwickelt hat, die all diese Diskussionen aus der Distanz der Außenstehenden beobachtet und zynisch, nüchtern und illusionslos beschreibt, bewältigt diese breite Themenvielfalt straff und stringent – und, nicht zu vergessen, mit ungeheurem Humor. Ihre umwerfend komische Beschreibung französischer Prominenz, zum Beispiel des leicht zu erkennenden Michel Houllebec beim Baustellenbesuch, wird man nicht so schnell wieder vergessen.
See der Schöpfung ist absolut fesselnd, brillant geschrieben (und zum Glück ebenso brillant übersetzt), eine Freude zu lesen – und zwingt zum Nachdenken: über den Kapitalismus, über uns, über die Menschenwelt und ihr mögliches Ende. Und damit das nicht zu bedrückend wird, zwingt es auch immer wieder zum lauten Gelächter.
Was aber hat es mit dem rauchenden Neandertaler auf sich? Dessen Vorfahr, der homo erectus, hat „als erster Mensch mit dem Feuer gespielt. Und wir müssen annehmen, so Bruno weiter, dass der erste Mensch, der mit dem Feuer spielte, auch der erste Mensch war, der rauchte.“ Übrigens keine Sorge: Im Buch selbst wird äußerst selten geraucht …
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.