Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Puenzo, Lucía

Wakolda

Untertitel
Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Rike Bolte
Beschreibung

Im Winter 1960 begegnet ein deutscher Arzt, der sich José nennt, auf der Straße vor einem Motel im argentinischen Chacharramendie der 12jährigen Lilith. Das hübsche blonde Mädchen fasziniert ihn wegen seiner Kleinwüchsigkeit, einer Störung, die in sein Forschungsgebiet fällt. José, von dem wir bald erfahren, dass er den Nachnamen Mengele trägt, ist auf dem (Flucht-) Weg in das Skigebiet Bariloche in Patagonien, wo ihm Freunde aus alten Zeiten Unterschlupf angeboten haben. Auf der Fahrt durch die Wüste trifft er Lilith und ihre Familie wieder.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Wagenbach Verlag, 2012
Format
Gebunden
Seiten
192 Seiten
ISBN/EAN
978-3-8031-3246-8
Preis
18,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Lucía Puenzo wurde 1976 in Buenos Aires geboren. Zur Zeit arbeitet sie an ihrem vierten Roman. Ihr Debüt als Regisseurin gab sie 2007 mit »XXY«, der beim Filmfestival in Cannes mit dem Grand Prix de la Semaine de la Critique und in Madrid mit dem Goya für den besten nichtspanischen Film ausgezeichnet wurde. Ihre eigene Verfilmung ihres Erstlingsromans »Das Fischkind« wurde 2009 auf der Berlinale uraufgeführt.

Zum Buch:

Im Winter 1960 begegnet ein deutscher Arzt, der sich José nennt, auf der Straße vor einem Motel im argentinischen Chacharramendie der 12jährigen Lilith. Das hübsche blonde Mädchen fasziniert ihn wegen seiner Kleinwüchsigkeit, einer Störung, die in sein Forschungsgebiet fällt. José, von dem wir bald erfahren, dass er den Nachnamen Mengele trägt, ist auf dem (Flucht-) Weg in das Skigebiet Bariloche in Patagonien, wo ihm Freunde aus alten Zeiten Unterschlupf angeboten haben. Auf der Fahrt durch die Wüste trifft er Lilith und ihre Familie wieder, die ebenfalls auf dem Weg nach Bariloche sind, wo sie eine Pension eröffnen wollen. Er schließt sich der Familie an, und als sie bald darauf in ein Unwetter geraten, finden alle Schutz im Haus eines Straßenbauarbeiters und dessen hochschwangeren jungen Frau. Dort tauscht Lilith unbemerkt von ihren Eltern ihre geliebte Puppe Herlitzka gegen die uralte Indianerpuppe Wakolda ein, die angeblich magische Kräfte besitzt.

In Bariloche angekommen, beschließt José, sich in der Pension der Familie einzumieten. Unter Aufbietung seines beträchtlichen Charmes betört er zunächst Lilith und dann die Eltern, die nach einigem Zögern seinem Vorschlag, Lilith mit Wachtumshormonen zu behandeln, zustimmen. Als Liliths schwangere Mutter Zwillinge zur Welt bringt, nimmt er sich der beiden frühgeborenen Säuglinge an und päppelt sie wieder hoch. Aber nach einer Begegnung mit der Touristin Nora wird ihm klar, dass ihm seine Verfolger auf den Fersen sind, und er bereitet erneut die Flucht vor.

Der Schriftstellerin und Filmemacherin Lucía Puenzo ist ein so außergewöhnlicher wie kluger Roman über Mengele gelungen. Ihre gut recherchierte Interpretation seiner Persönlichkeit entwickelt sie aus der Beziehung zu der kleinen Lilith, die von ihm bezaubert und ihm dadurch ausgeliefert ist. Fasziniert verfolgt man, wie der als „Todesengel von Auschwitz“ bekannt gewordene Arzt das Mädchen dazu bringt, ihm zu vertrauen, trotz der Schmerzen, die er ihr durch die Wachstumshormone zufügt und deren Dosis er ohne Wissen der Eltern immer weiter steigert, wie er es schafft, die Eltern soweit für sich gewinnen, dass sie ihn quasi in die Familie aufnehmen, ihm die Behandlung der Tochter anvertrauen und schließlich sogar die alleinige Aufsicht über die Pflege ihrer frühgeborenen Zwillinge gewähren. Mit dem Bild der Puppen, die Liliths Vater herstellt, hat die Autorin eine weitere passende Metapher zur Charakterisierung ihrer Figur gefunden: Die Perfektion der lebensechten blonden Puppe Herlitzka, die Lilith bei ihrer ersten Begegnung mit sich herumträgt, entspricht dem Perfektionszwang des Protagonisten genauso wie seinem Verhältnis zu Kindern, denen er – mit sachlicher, kalter Grausamkeit – zu derselben puppenhaften Perfektion verhelfen will. Lilith dagegen legt keinen Wert auf Perfektion: ihr macht es nichts aus, die perfekte blonde gegen die „primitive“ indianische Puppe einzutauschen. Dass der ohne ihr Wissen darin versteckte Schatz ausgerechnet Mengele in die Hände fällt, verweist auf den dritten Strang des Buches: die Geschichte der Internierung und Vernichtung der argentinischen Indianer in KZ-ähnlichen Lagern durch die spanischen Kolonialisten im 19. Jahrhundert. Damit zieht die Autorin, ohne jedoch zu vergleichen, eine Verbindung zwischen der Menschenverachtung der Kolonisatoren und den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus.

„Wakolda“ ist ein faszinierender Roman über ein schwieriges Thema, den ich von ganzem Herzen empfehlen kann.

Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main