Zum Buch:
Ein Buch mit zwei Eingängen, ein Roman, den man von vorne und von hinten beginnen kann? In dem die Kapitelfolge nicht festgelegt ist, weil man abwechselnd von beiden Seiten her zur Mitte des Buches vordringen kann? Schon dieses Angebot ist eine Verlockung. Aber auch sonst zieht “Die Leinwand”, ein Roman über Wege und Tücken der Erinnerung, den Leser in seinen Bann.
Jan Wechsler und Amnon Zichroni heißen die beiden Erzähler, die ihr Leben zwischen den beiden Buchdeckeln entfalten. Wechsler, Journalist, Lottogewinner und Unternehmensberater, in den 1960iger Jahren in Ostdeutschland geboren, muss immer wieder erleben, dass ihn sein Gedächtnis täuscht – vor allem, wenn es um Bücher geht. Die Geschichten, die er dem Leser darüber erzählt, wie er das eine oder andere Buch gekauft oder als Geschenk erhalten hat, werden von seiner Frau anhand der Kassenzettel, die sie in den Büchern aufbewahrt, liebevoll als Fiktion entlarvt. Tragisch wird es, als ein Bote am Schabbes einen Pilotenkoffer für ihn abgibt, denn er kann sich zwar daran erinnern, zwei solcher Koffer besessen zu haben, nur vermisst er keinen. Der Inhalt des Koffers stellt ihn vor ein weiteres Rätsel: Das Rätsel der eigenen Identität.
Amnon Zichroni, geboren in Jerusalem, streng jüdisch erzogen in der Schweiz, hat in den USA Medizin studiert und ist Psychiater geworden, denn er besitzt eine besondere Gabe: Er kann die Erinnerungen anderer Menschen nacherleben. In Zürich, wo er seine Praxis eröffnet, lernt er den Geigenbauer Minsky kennen. Der leidet unter den Erinnerungen an seine Kindheit, die ihn in ein NS-Vernichtungslager führen. Zichroni ermuntert ihn dazu, seine Erlebnisse schreibend zu verarbeiten. Minskys Buch wird veröffentlicht und ein Riesenerfolg.
Bis Jan Wechsler auf den Plan tritt und behauptet, Minskys Erinnerungen seien reine Fiktion. Vom weiteren Verlauf der für alle drei Männer tragischen Geschichte sei nur noch soviel verraten: Wechsler und Zichroni begegnen sich in Israel und es wird ihre letzte Begegnung sein – zumindest in diesem Buch.
Das Spiel mit Fiktion, auch mit den Namen der beiden Erzähler – mit Amnon will der Autor die Assoziation “Amnesie” provozieren, “Zichroni” dagegen trägt die hebräische Wurzel von “Erinnern” in sich – dieses Spiel ist eine der Köstlichkeiten, deretwegen man Steins Roman mindestens noch ein weiteres Mal lesen möchte. Aber auch die Geschichten der Erzähler, von denen hier nicht viel verraten worden ist, stecken voller verborgener Andeutungen. Man möchte sie aufspüren. Und zusammensetzen wie die Mosaikstücke einer Erinnerung.
Susanne Rikl, München