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Autor
Schenck, Naomi

Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12

Untertitel
Beschreibung

“Als mein Großvater starb, vermachte er mir keine Reichtümer, dafür aber die Rechte an seiner Biographie, in der für ihn charakteristischen Mischung aus Selbstironie und aufrichtigem Bewusstsein der eigenen Bedeutsamkeit.” Der Großvater, um den es hier geht, ist der 2003 verstorbene Günter Schenck, Professor für Chemie in Göttingen und Gründungsdirektor des späteren Max-Planck-Instituts für Strahlenchemie in Mülheim an der Ruhr.

Äußerer Anstoß für die Beschäftigung mit der Biographie ihres Großvaters ist für Naomi Schenck die eher zufällige Entdeckung, dass Günther Schenck (1913 geboren) nicht nur NSDAP-Mitglied gewesen (seit 1937), sondern bereits 1933 in die SA eingetreten war.

Herausgekommen ist ein kluges und unsentimentales Buch, das sich auf eigene Erinnerungen sowie auf Erzählungen von Familienmitgliedern, (meist hochbetagten) Freunden, Weggefährten und Mitarbeitern, aber auch auf Archiv- und Literaturrecherche stützt.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hanser Berlin, 2016
Format
gebunden
Seiten
336 Seiten
ISBN/EAN
978-3-446-25078-9
Preis
22,90 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Naomi Schenck wurde in Santa Monica geboren, wuchs in Mülheim an der Ruhr auf und studierte Malerei und Bühnenbild an der Kunstakademie Düsseldorf. Seit 1996 arbeitet sie als Szenenbildnerin für Film- und Fernsehproduktionen. Seit 2005 veröffentlicht sie Texte und Hörspiele. 2010 erschien von ihr Archiv verworfener Möglichkeiten, 2013 Kann ich mal Ihre Wohnung sehen? Naomi Schenck lebt in Berlin.

Zum Buch:

“Als mein Großvater starb, vermachte er mir keine Reichtümer, dafür aber die Rechte an seiner Biographie, in der für ihn charakteristischen Mischung aus Selbstironie und aufrichtigem Bewusstsein der eigenen Bedeutsamkeit.” Der Großvater, um den es hier geht, ist der 2003 verstorbene Günter Schenck, Professor für Chemie in Göttingen und Gründungsdirektor des späteren Max-Planck-Instituts für Strahlenchemie in Mülheim an der Ruhr. Erst mit rund einem Jahrzehnt Abstand zu seinem Tod widmet sich Naomi Schenck der Aufgabe, seine Biographie zu schreiben. Die hierbei zu bewältigenden Schwierigkeiten werden in die Darstellung einbezogen: der Verfasserin fehlt, wie sie selbst eingesteht, der naturwissenschaftliche Hintergrund zum Verständnis der Forschungen ihres Großvaters; um eine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung kann es also nicht gehen.

Äußerer Anstoß für die Beschäftigung mit der Biographie ihres Großvaters ist für Naomi Schenck die eher zufällige Entdeckung, dass Günther Schenck (1913 geboren) nicht nur NSDAP-Mitglied gewesen (seit 1937), sondern bereits 1933 in die SA eingetreten war. Wie stand Günther Schenck zum nationalsozialistischen Regime? Was bewog den jungen Heidelberger Studenten, sich zu diesem frühen Zeitpunkt der SA anzuschließen? Politische Überzeugung? Opportunismus? Wirklich beantworten kann Naomi Schenck diese heiklen Fragen nicht, trotz intensiver Bemühungen. Herausgekommen ist dennoch ein kluges und unsentimentales Buch, das sich auf eigene Erinnerungen sowie auf Erzählungen von Familienmitgliedern, (meist hochbetagten) Freunden, Weggefährten und Mitarbeitern, aber auch auf Archiv- und Literaturrecherche stützt.

Am interessantesten sind die Kapitel, die sich konkret mit dem Lebensweg des Großvaters befassen, etwa mit einem frühen Ausflug von Lörrach nach Basel zwecks Zuckerkauf, in dessen Gefolge er eine Ausstellung mit Werken von Otto Dix besucht und so seine Neigung zu Alpträumen lindert. Beeindruckend auch Günther Schencks Erfindungsreichtum in der Nachkriegszeit, in der er mit Hilfe von Sonne, Spinat und durchsichtigen Glasflaschen im eigenen Garten ein stark nachgefragtes Wurmmittel herstellt, um seine Familie zu ernähren. Nachts verdient er als Musiker ein Zubrot, weil es sonst zum Lebensunterhalt nicht reicht. Die beruflichen und familiären Belastungen übersteht er (ebenso wie seine Ehefrau Christel) nur mit Hilfe von Pervitin. Ab 1950 nimmt Günther Schenck seine Forscherlaufbahn wieder auf. Fast bis zu seinem Lebensende verschreibt er sich dem wissenschaftlichen Fortschritt.

Eine Stärke des Buches von Naomi Schenck ist neben der nüchternen und präzisen Sprache die Selbstreflexivität und, wenn man so will, schonungslose Offenheit in Familienangelegenheiten. Viele Schilderungen sagen jedoch auch etwas über die oftmals verwickelten und komplizierten Lebensverhältnisse im Deutschland des 20. Jahrhunderts aus, in dem die Auseinandersetzung mit den Jahren von 1933 bis 1945 eine zentrale Rolle einnehmen muss – und auf diese Weise wird Günther Schencks ungewöhnliche testamentarische Verfügung von der Enkelin auf durchaus bemerkenswerte Weise eingelöst.

Björn Biester, Welterod