Zum Buch:
Es sind die frühen 1950er Jahre in Enniscorthy, Südirland. Die Wirtschaft stagniert, Arbeitsplätze gibt es nicht, und so sind die älteren Brüder von Eilis Lacey, der Hauptfigur in Tóibíns neuestem Roman, nach England gegangen, um dort zu arbeiten. Zurück bleiben die Mutter und die erwachsenen Töchter Eilis und Rose. Rose ist nicht nur die schönste Frau des Ortes, sie hat auch einen Arbeitsplatz als Buchhalterin und finanziert mit ihrem Einkommen die Familie. Ein Bekannter der Eltern, jetzt Pfarrer in der irischen Gemeinde in Brooklyn bietet Rose an, Eilis eine Stelle und Unterkunft in den USA zu besorgen. Rose akzeptiert, und Eilis wandert aus, wissend, dass sie damit stellvertretend den Lebenstraum der bewunderten Schwester verwirklicht.
In Brooklyn wohnt sie bei einer irischen Zimmerwirtin, wird in die irische katholische Gemeinde integriert und arbeitet als Verkäuferin in einem irisch-amerikanischen Kaufhaus. Nach und nach wird das feste Gefüge um Eilis aufgebrochen. Tóibín setzt thematische Akzente: erste Kontakte außerhalb der irischen Gemeinde; Eilis‘ Erkenntnis, durch ihre Auswanderung für die in Irland Zurückgebliebenen attraktiv geworden zu sein; und natürlich die Erfahrung einer Gesellschaft im Aufbruch, deren Perspektiven und (moralischen) Werte oft das glatte Gegenteil dessen sind, was sie kannte. Während sich Tóibín in der ersten Romanhälfte Zeit für sehr genaue kleinteilige Beschreibungen nimmt – die bewunderte Schwester, die von der Chefin streng reglementierte Arbeit in einem kleinen Lebensmittelgeschäft und die quälende Überfahrt über den Atlantik in der dritten Klasse – ist der zweite Teil stärker der inneren Entwicklung der Romanheldin gewidmet. Großartig ist dabei der Rahmen: die Schilderung Brooklyns, die vollkommen ohne „Touristisches“ auskommt. Für Eilis steht im Mittelpunkt: Heimweh, Fleiß, Fremdsein, die emotionale und praktische Abhängigkeit von der irischen Gemeinde und zugleich die ungeheure Ausweitung des Horizonts.
Voller Nuancen entsteht in diesem Roman das melancholisch-feine Porträt einer jungen Frau. Fast nebenbei aber eben auch eine Erzählung von Emigration, Brooklyn in den 1950er Jahren und von der einflussreichen Rolle der Katholischen Kirche in diesem Beziehungsgeflecht. (CB)
Claudia Biester, Offenbach am Main