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Autor
Ovčina, Damir

Zwei Jahre Nacht

Untertitel
Roman. Übersetzt von Mascha Dabić
Beschreibung

Damir Ovčina, der während des Bosnienkriegs jahrelang in Sarajevo eingeschlossen war, hat einen gewaltigen, autobiographischen Roman geschrieben. – Ein Staat zerfällt, plötzlich ist Krieg. Ein 18jähriger junger Mann wird in einem feindlichen Viertel Sarajevos eingeschlossen. Er muss dort zwei Jahre bleiben, vom Vater getrennt. Von den Besatzern wird er gedemütigt. Er muss Tote bestatten, steht aber auch den Lebenden bei. Er lernt, im Verborgenen, eine Frau kennen. Dann wehrt er sich zum ersten Mal gegen seine Peiniger, flüchtet und kämpft fortan im Untergrund.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Rowohlt Berlin, 2019
Format
Gebunden
Seiten
752 Seiten
ISBN/EAN
978-3-7371-0051-9
Preis
26,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Damir Ovčina, 1973 in Sarajevo geboren, studierte dort Literaturwissenschaft. Er ist Direktor einer Schule für blinde und sehbehinderte Kinder (und publiziert auf seiner Website impruva.ba). Sein erster Roman, den er gut zwanzig Jahre nach seinem Debüt veröffentlichte, wurde in Bosnien und Herzegowina gefeiert wie lange kein Buch mehr: «Zwei Jahre Nacht» wurde 2016 mit dem Hasan-Kaimija-Preis für das beste Prosawerk des Landes sowie mit dem Mirko-Kovač-Preis, einem der wichtigsten Literaturpreise im südslawischen Raum, ausgezeichnet. Damir Ovcina, selbst 1973 in Sarajevo geboren und Zeitzeuge der Belagerung, hat mit Zwei Jahre Nacht ein Buch geschrieben, das sich liest wie ein Bericht aus dem Auge des Orkans.

Zum Buch:

Sarajevo liegt wunderschön: Eingebettet zwischen hohen Bergen, wie ein rohes Ei im Karton, lang hingestreckt an den Ufern der strudelnden Miljacka. Gravitätisch erhebt sich da das Bibliotheksgebäude, vor dem ein Achtzehnjähriger den Funken zum Ersten Weltkrieg entzündete, altehrwürdig dahinter das osmanische Viertel mit seinen geduckten Läden, Märkten und Restaurants, zwischendrin majestätisch alte Moscheen und über all dem das regelmäßige Hämmern aus den Kunsthandwerkerläden. Sarajevo ist eine Stadt, deren Viertel, deren zeitliche Ebenen, scheinbar keine Grenzen kennen: Alles fließt ineinander, alles ist miteinander verwoben, das muslimische, das christliche und das jüdische Leben. Wenige Meter von den sozialistischen Betonklötzen entfernt modern verglaste Wolkenkratzer, nicht weit davon stuckbeladene Prachtbauten aus österreichischen Zeiten, dazwischen osmanische Gebäude. Hier ein Kirchlein, da eine Synagoge und daneben eine Moschee. Ein einträchtiges Ensemble der Verschiedenheiten, das von einer oftmals noch gut sichtbaren Episode der Landesgeschichte aneinander geschmiedet ist: In den Fassaden Einschusslöcher, in den Putz gemörserte Relikte des nationalistischen Wahnsinns, der die Stadt in den Jahren von 1992 bis 1995 in ein danteskes Inferno verwandelte. Das ist der unsichtbare Schleier, der über der Stadt liegt, der das Hochgefühl dieses immensen kulturellen Reichtums mit einer dumpfen Melancholie beschwert. Die unzähligen Narben und noch nässenden Wunden einer bis heute zerrissenen Nation.

Damir Ovcina, selbst 1973 in Sarajevo geboren und Zeitzeuge der Belagerung, hat mit Zwei Jahre Nacht ein Buch geschrieben, das sich liest wie ein Bericht aus dem Auge des Orkans.

Der siebzehnjährige Erzähler, der wie nahezu alle anderen Personen im Buch namenlos bleibt, erleidet gleich zu Anfang einen schweren Schicksalsschlag: Seine Mutter stirbt an einer akuten Vaskulitis, das Weltgeschehen ist wie stummgeschaltet hinter der Sorge und der Trauer, und so wird er von der sich rapide zuspitzenden Lage um Sarajevo überrascht, als er einen leichtsinnigen Ausflug in das Viertel Grbavica macht. Die serbische Armee schließt den Kessel um die Stadt, Grbavica wird abgeriegelt, der Protagonist, selbst Moslem, wird als „Türke“ in einer Wohnung festgesetzt, muss sich täglich bei einem Posten der serbischen Armee melden und wird schließlich zum Arbeitsdienst abkommandiert. Dort muss er, zusammen mit anderen, Möbel schleppen, Sandsäcke füllen, aber auch – später dann fast ausschließlich – , die Leichen der von den Soldaten und Milizen, zu Tode Geschundenen im Wald verscharren. Es ist ein grausiger Dienst in einer unhaltbaren Situation, die sich scheinbar unaufhaltsam pervertiert. Einzig die zarte Liebesgeschichte, die sich zwischen dem Erzähler und dem Mädchen entspinnt, das sich, als Angehörige der „richtigen Ethnie“ vor Verfolgung und Ermordung in Sicherheit, aufopfernd um ihn kümmert, und die fast zwanghafte Niederschrift des Erlebten tragen den jungen Mann durch das alltägliche Grauen der Belagerung. Wie viel Elend kann ein Mensch ertragen, bevor er zerbricht? Wie viel Qual erträgt eine menschliche Seele?

Das 750 Seiten starke Buch ist von einer besonderen Intensität, die nicht zuletzt von einer maximal entschlackten Sprache erzeugt wird. Adjektive sind selten, die Sätze parataktisch verknappt, Personennamen rar. Der Leser wird in die Notizhefte des Protagonisten, in die Mitte des Geschehens gezogen und erlebt die Geschichte aus einer radikal subjektiven Perspektive. Dabei bleibt der Erzähler kühl und distanziert, gestattet sich keine direkte Gefühlsäußerungen. Es ist vielmehr die Auslassung, der Raum zwischen den Wörtern und Sätzen, der eine hohe emotionale Spannung erzeugt und vor allem über die Länge des Buches aufrecht erhalten wird – eine Chronik des Grauens. Aber auch eine des gewaltsamen Erwachsenwerdens.

Der schiere Umfang des Romans ist dabei, so scheint es, Teil des Konzepts. Gegen den grassierenden Wahnsinn des Krieges, wappnet sich der Protagonist mit Routinen und Ritualen – die täglichen Notizen sind ein wesentlicher Bestandteil davon, ebenso die Lektüre russischer Schriftsteller, die Liegestütze und die allabendlichen heimlichen Treffen mit der Freundin. In diesem quantifizierten erzählerischen Gleichtakt wird die Lage in Grbavica und Sarajevo immer dramatischer, das Vorgehen der serbischen Armee gegen die bosniakische Zivilbevölkerung immer bestialischer. Langsam, fast unmerklich steigert sich der Wahnsinn, erreicht immer neue Höhepunkte, ohne dass ein dramaturgischer Tusch gesondert darauf hinweisen würde – eine langsame aber unaufhaltsame Beschleunigung in Richtung des totalen Kontrollverlusts, ein System menschlicher Monstrosität von Innen.

Zwei Jahre Nacht ist ein heftiges und intensives Buch, das sowohl einen Einblick in das wohl dramatischste Kapitel Sarajevos bietet als auch eine Chronik menschlicher Bestialität, die die dünne Firnis der Zivilisation überall da durchbricht, wo radikale Ideen von ethnischer Reinheit und plumpem Nationalismus zur Blüte gebracht wurden.

Johannes Fischer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt