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Die Zukunft ist Geschichte

Autor
Gessen, Masha

Die Zukunft ist Geschichte

Untertitel
Wie Russland die Freiheit gewann und verlor. Aus dem Amerikanischen von Anselm Bühling
Beschreibung

Wie kam es zum Zusammenbruch der Sowjetunion und wie konnte es nach einer Phase der Liberalisierung zu einem illiberalen Nationalismus in Russland kommen? Diese Fragen verfolgt die Journalistin Masha Gessen in ihrem Buch. Ihre These zur Beantwortung dieser Fragen schließt an die Umfrageergebnisse des russischen Meinungsforschers Lew Gudkow an, denen zufolge der sogenannte „homo sovieticus“ niemals ausgestorben ist und sich heute gegen die Öffnung des Landes instrumentalisieren lässt.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Veralg, 2018
Seiten
639
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-518-42842-9
Preis
26,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Masha Gessen, geboren 1967 in Moskau, wurde mit Büchern wie Der Mann ohne Gesicht: Wladimir Putin. Eine Enthüllung (2012) und Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman (2013) bekannt. Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award 2017 und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2019. Gessen schreibt für das Magazin The New Yorker und lehrt am Amherst College. Masha Gessen lebt in New York.

Zum Buch:

Wie kam es zum Zusammenbruch der Sowjetunion und wie konnte es nach einer Phase der Liberalisierung zu einem illiberalen Nationalismus in Russland kommen? Diese Fragen verfolgt die Journalistin Masha Gessen in ihrem Buch Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und wieder verlor. Ihre These zur Beantwortung dieser Fragen schließt an die Umfrageergebnisse des russischen Meinungsforschers Lew Gudkow an, denen zufolge der sogenannte „homo sovieticus“ niemals ausgestorben ist und sich heute gegen die Öffnung des Landes instrumentalisieren lässt. Masha Gessen hat mit dem National Book Award 2017 und zuletzt mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2019 viel Aufmerksamkeit für ihr Buch erhalten.

Um zu beantworten, wie es nach einer Phase der Liberalisierung während der Perestroika wieder zu einer totalitären Gesellschaft kommen konnte, regiert von einem Mafiastaat, wie sie es mit den Soziologen Gudkow und Bálint Magyar nennt, schreibt sie zum einen eine Geschichte der politischen Entwicklung zwischen 1987 und 2017. Zum anderen erzählt sie die Geschichte von sieben Personen, die ihr – so heißt es am Ende des Buches – zu einem großen Teil in Gesprächen ihre Sicht der Dinge erzählt haben. Zunächst sind das vier Mitte der 1980er Jahre geborene Russinnen und Russen. Shanna, die Tochter von Boris Nemzow, lebt zunächst relativ unbehelligt als reiche Tochter des berühmten Mannes. Dann aber beginnt sie, das politische Engagement ihres Vaters nachzuvollziehen, wird Journalistin und beteiligt sich an einigen seiner Protestveranstaltungen. Nach der Ermordung von Boris Nemzow im Februar 2015 in unmittelbarer Nähe des Kremls und unter bislang ungeklärten Umständen gründet sie in Deutschland eine Stiftung, die Proteste gegen Putin unterstützt. Mascha wird zur Aktivistin wider Willen, schließt sich der Aktionsgruppe Pussy Riot an, arbeitet in Chodorkowskis Organisation und beschließt nach jahrelangem Engagement für verhaftete Aktivist_innen, sich aus dem politischen Leben zurückzuziehen. Serjosha wird unter Putin zum Aktivisten gegen die Regierung, als er von dem Fall eines Mannes hörte, der unter dem falschen Vorwurf der Pädophilie aus dem Geschäft gezogen worden war. Ausführlich beschreibt Gessen, wie die Putin-Regierung mit diesem Vorwurf störende Personen ausschaltet. Dabei, so Gessen, könne sich die Regierung auf Bewegungen „aus dem Volk“ verlassen, die in brutaler Selbstjustiz gegen angebliche Kinderschänder vorgehen. Der Vorwurf der Pädophilie wird im homophoben russischen Diskurs auch immer wieder gegen Homosexuelle vorgebracht. Ljoscha, der vierte Protagonist, leidet seit seiner Jugend unter homophober Gewalt. Dennoch gelingt es ihm, an einer russischen Universität ein Zentrum für Gender-Studies aufzubauen, das dann geschlossen wird. Ihm und seinen Kolleg_innen wird Gewalt angedroht, woraufhin er in die USA emigriert.

Auch bei der Geschichte der Psychoanalytikerin Marina Arutjunjan orientiert sich Gessen an einem biografischen Narrativ. Arutjunjan erlebt die Perestroika als Befreiung, durch die sie sich endlich zuvor verbotenes Wissen aneignen kann. Die Entwicklungen in den 2000er Jahren aber erlebt sie als eine Rückkehr in die Unfreiheit und sieht sich in der schwierigen Situation, die Angststörungen ihrer Klienten heilen zu müssen, während die Regierung alles dafür tut, die Bürger in Angst und Schrecken zu halten. Einem ähnlichen Muster folgt die Geschichte des Soziologen Lew Gudkow, der unter Juri Lewada, dem berühmten Meinungsforscher der Perestroika, gearbeitet hatte. Lewada hatte die Kategorie des sogenannten „homo sovieticus“ eingeführt, einem Menschentyp, den die totalitäre sowjetische Gesellschaft zum Überleben erzogen hat, der weder für das Regime noch dagegen ist, aber niemals aufbegehren würde, sondern stattdessen versucht, über die Runden zu kommen. Dieser Menschentyp, so Lewada, sterbe seit der Perestroika aus – eine These, die Gudkow später bezweifelt. Gudkow führt das Lewada-Zentrum für Meinungsforschung weiter, auch dann noch, als es sich wie andere unabhängige Organisationen als „ausländischer Agent“ ausweisen musste.

Zuletzt wird die Geschichte – hier allerdings nicht auf der Grundlage persönlicher Gespräche – des neofaschistischen Philosophen und Aktivisten Alexander Dugin erzählt. Während er in der Sowjetunion noch heimlich Heidegger lesen musste, trug er ab 2013 dazu bei, dass sich der radikale antiwestliche und antiliberale Eurasianismus und Putins Regierung annäherten, und unterfütterte damit ideologisch die Annexion der Krim. Diese und andere Markierungen diskursiver Wendepunkte in der russischen Gesellschaft sind sehr erhellend. Die dramaturgische Entscheidung, die politischen Entwicklungen anhand der Geschichten von sieben Personen zu erzählen, macht diese Entwicklungen sehr nachvollziehbar und gibt darüber hinaus Einblicke in verschiedene zentrale Diskurse, von der Psychoanalyse über die LGBT-Bewegung bis zum rechtsradikalen Eurasianismus, aber auch in ganz unterschiedliche Milieus und soziale Schichte der russischen Gesellschaft.

Das alles läuft auf die These zu, Russland habe keine Zukunft, solange es auf eine imaginäre Vergangenheit fixiert bleibt. Die Atmosphäre ständiger Angst, die die Regierung Putins durch eklektisches hartes Durchgreifen in Russland verbreite, so Gessen, sorge für einen Stillstand im Land, sodass noch nicht einmal die Aktionen der Putin-Gegner_innen optimistisch stimmen, die mit immer mehr Widerstand zu kämpfen haben. Dieses pessimistische Fazit macht Gessens Buch zu einer Art Warnruf: Wenn jetzt nicht bald etwas geschieht, so scheint sie zu sagen, wird bald auch die letzte Energie für Widerstand gelähmt sein. So bleibt am Ende des Buches wenig Hoffnung und ein großes Unbehagen. Das mag zum einen dem Duktus von Gessens Erzählung mit seinen polemischen Zuspitzungen und der auch auf das Erzählen in erlebter Rede zurückgehenden fehlenden Distanz geschuldet sein, entsteht aber zum anderen aus dem Thema selbst. Aber deshalb das Buch nicht zu lesen, ist auch keine Lösung.

Alena Heinritz, Graz