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Sankt Helena ist wohl der abgelegenste bewohnte Flecken dieser Erde. Mitten im Atlantik, 1859 km von Afrika und 3286 km von Südamerika entfernt. Ein unwirtlicher Ort, ohne Jahreszeiten, mit ständig wechselndem Wetter und immerwährenden Passatwinden. Dünn besiedelt, seit Jahrhunderten ausgebeutet und verwüstet. Wohin lässt sich ein Mensch, der fast ganz Europa unterjocht hat, dessen Eroberungskriege Millionen Menschen das Leben kostete und der nach seiner Niederlage von seinem ersten Verbannungsort Elba floh, um weitere Kriege zu führen, besser verbannen, als auf diese desolate Insel? Dass es sich bei dem Verbannten um Napoleon Bonaparte handelte, der auf Beschluss der Alliierten seine letzten Lebensjahre auf Sankt Helena verbrachte, hat der Insel zu ewigem Ruhm verholfen. Ein freundlicherer Ort ist sie dadurch nicht geworden.
Das erste Zeugnis der „Entdeckung“ St. Helenas stammt aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts von Portugiesen, die nach der Erkundung der Insel dort ihre Wasservorräte auffüllten. Um weiterhin einen Versorgungstützpunkt zu haben, setzten sie vor der Abfahrt einige Ziegen aus, die sich munter vermehrten. Dies war die erste der danach nicht mehr abreißenden Störungen des Ökosystems der damals noch üppig grünen Insel. Im Laufe der kommenden Jahrhunderte wurde sie immer weiter ausgebeutet und verwüstet, bis sie zu dem überwiegend kargen Eiland wurde, das sie heute ist. Verantwortlich dafür waren die Menschen, die sich dort ansiedelten (oder angesiedelt wurden), und die dort Halt machenden Schiffsbesatzungen.
Als Napoleon 1815 mit seinen Begleitern – bestehend aus einigen Vertrauten, von denen einige die Familie mitnahmen, Ärzten und Köchen – auf Sankt Helena ankam, hatte die Insel den heutigen Zustand bereits erreicht. Schwer bewacht von den Engländern, wurde ihm als Wohnhaus ein verfallener Bauernhof zugewiesen, der in äußerst schlechtem Zustand war und im Laufe der Jahre trotz aller Instandhaltungsversuche weiter verfiel. Er war klein, feucht, unter den Fußböden tummelten sich die Ratten, und von den maroden Wänden fielen die Tapeten. Gleichwohl wahrte sein kleiner „Hofstaat“ auch unter diesen Bedingungen peinlichst die Form und versuchte, den Wünschen und Launen des „Kaisers“ zu entsprechen – was durchaus groteske Forman annehmen konnte. Einfühlsam, mit großer Genauigkeit und reich an Details erzählt Julia Blackburn von den Versuchen der Menschen, unter widrigen Umständen ihre Würde zu wahren. Und sie erzählt, wie der „Schrecken Europas“, ein kleiner, dicklicher Mann, hektisch versucht, seinen trostlosen Tagen Sinn zu verleihen. Wir erfahren von seiner Körperpflege, seinen Krankheiten und seinem Tod, seiner Beerdigung und der Rückführung nach Frankreich.
Die Autorin verknüpft die Geschichte der Insel und die der sechs Jahre, die Napoleons Verbannung währte, mit einem Bericht über ihre Reise nach Sankt Helena und ihren langen Aufenthalt dort. Sie stützt sich in ihrem Buch ausschließlich auf Quellen und fiktionalisiert die Geschichte glücklicherweise nicht. An einigen Stellen imaginiert sie Szenen, die sie mit den Worten „ich blicke auf“ einleitet, erliegt aber nie der Versuchung, sie distanzlos zu emotionalisieren. Des Kaisers letzte Insel ist ein stimmungsvoller, sensibel erzählter Text, melancholisch und grotesk komisch zugleich, informativ und fantasievoll, unterhaltsam zu lesen und nachdenklich machend.
Ruth Roebke, Bochum