Zum Buch:
Die kaum 20jährige Naima ist verschwunden, plötzlich und ohne ein Wort. Alle Spuren, die die verzweifelten Eltern finden können, deuten darauf hin, dass sie sich dem IS-Kalifat in Syrien angeschlossen und einen von dessen Kämpfern geheiratet hat. Ihr Vater, Murad, Sohn eines Kurden und einer Deutschen, aufgewachsen in Berlin, macht sich auf den Weg in die Kurdengebiete im Grenzland zwischen Syrien und der Türkei, um sie zu finden und möglichst nach Deutschland zurückzubringen, übrigens durchaus gegen den Willen seiner Exfrau Dorothee, die ihm vorwirft, sich aus sinnloser Abenteuerlust und irregeleitetem Heldenmut ohne Aussicht auf Erfolg in das gefährliche Kriegsgebiet zu stürzen.
Aber Achtung: Wer nach dieser Inhaltsangabe Action erwartet, wird enttäuscht. Aber dafür bekommt er etwas sehr viel Besseres: einen leisen, ruhigen, nachdenklichen und nachdenklich machenden, großartig geschriebenen und komponierten Roman, der seine stetig zunehmende Spannung (ausgerechnet!) aus einem scheinbar endlosen Warten in einer überwiegend kargen, bergigen und menschenfeindlichen Landschaft bezieht. Gleich am Anfang folgen wir Murad – der Name bedeutet übersetzt „der große Wunsch“ – auf dem langen Abstieg von einer Bergkette, auf der ihn der LKW-Fahrer, der ihn mit hinaufnahm, abgesetzt hat. Er muss hinunter, trotz schrecklichem Durchfall und der damit verbundenen Schwäche, zurück zu dem Gasthaus in der Kleinstadt Mardin, um den Boten zu treffen, der ihm Nachrichten vom Aufenthalt seiner Tochter bringen soll. Die Beschreibung dieses Wegs, des stetig wechselnden Lichts, der sich immer wieder völlig verändernden Ausblicke ist atemberaubend. Mit zunehmender Dunkelheit und der Gewissheit, sein Zimmer und damit den Boten nicht mehr rechtzeitig zu erreichen, kommen Erinnerungen an die Geschichten seines Vaters, der aus dieser Gegend stammte, und an seine Tochter in ihm hoch, das Gefühl, als Ehemann und Vater versagt zu haben, aber auch die Angst, in der menschenleeren Einsamkeit dieser Berge unwiderruflich zu verschwinden. Als ihn in der Dunkelheit dann eine Meute wilder Hunde verfolgt, wird die Angst zur Panik, die ihn vorwärtstreibt, bis er schließlich in einer Berghütte Unterschlupf findet.
Aus dieser Anfangsszene entwickelt Sherko Fatah nach und nach Murads Suche nach sich selbst– die Suche eines Menschen aus der zweiten Einwanderergeneration, der in Berlin ständig hört, er müsse das Land seines Vaters doch kennen, er komme doch daher, aber jetzt feststellt, dass es ihm zwar in Teilen bekannt, aber keineswegs vertraut ist. Jeder, dem er begegnet, macht ihm klar, dass er fremd ist, nicht dazu- und nicht hierhergehört, nichts weiß und nichts versteht. Genauso ergeht es ihm mit den Nachrichten über seine Tochter, die ihm der Bote zukommen lässt – ein Audiotagebuch, dessen Stimme ihm nicht vertraut scheint, Fotos einer vollverschleierten Frau, die er nicht eindeutig identifizieren kann. Stammen sie wirklich von Naima? Kann er den Männern vertrauen, oder geht es ihnen nur ums Geld? Selbst die Mails und Textnachrichten von Aziz, Murads ältestem Freund und Geschäftspartner, verstören ihn und wecken zunehmend sein Misstrauen.
Sherko Fatah beschreibt diesen Zustand völliger Unsicherheit und vollständigen Ausgeliefertseins so eindrücklich, dass es einem bei der Lektüre den Atem verschlägt. Und vermittelt fast nebenbei die Einsicht, wie unser eurozentrischer Blick all die vielen anderen möglichen Perspektiven ausschließt, seien sie politisch, historisch, kulturell oder religiös. Dass das im Moment hochaktuell ist, muss nicht erst gesagt werden und bietet viel Stoff zum Nachdenken. Vor allem aber ist Der große Wunsch ein so großartiger wie bemerkenswerter Roman, den man kaum aus der Hand legen kann und den ich am liebsten sofort nach dem absolut überraschenden Ende wieder von vorne angefangen hätte.
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.