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Autor
Haratischwili, Nino

Das mangelnde Licht

Untertitel
Roman
Beschreibung

Eine Ausstellungseröffnung 2019 in Brüssel: Auf dem international anerkannten Parkett im königlichen Museum werden die Fotografien der georgischen Künstlerin Dina Pirweli gezeigt. Eingeladen zur Ausstellungseröffnung wurden auch die drei Freundinnen Dinas, die auf vielen der Fotografien der Meisterfotografin abgebildet sind. Eine der drei Freundinnen ist Keto. Sie ist Restauratorin und die Erzählerin. Anhand der Bilder und der Gegenwart der lange nicht gesehenen Freundinnen erinnert sie sich, bringt sie die Bilder zum Sprechen. Die gemeinsame Kindheit, die Pubertät, das langsame Erwachsenwerden und damit zunehmend auch die Wahrnehmung der Außenwelt, der georgischen Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, das ebenso brutale und gewalttätige wie verzweifelte Ringen um eine neue Gesellschaft und zugleich ihre ganz persönliche Sehnsucht nach Glück, Gemeinschaft, Leben – ihre gemeinsame Geschichte wird wieder lebendig.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Frankfurter Verlagsanstalt, 2022
Format
Gebunden
Seiten
832 Seiten
ISBN/EAN
9783627002930
Preis
34,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi/Georgien, ist preisgekrönte Theaterautorin, –regisseurin und Romanautorin. Ihr großes Familienepos Das achte Leben (Für Brilka), in 25 Sprachen übersetzt, avancierte zum weltweiten Bestseller, eine große internationale Verfilmung ist in Vorbereitung. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Literaturpreis, dem Bertolt-Brecht-Preis und dem Schiller-Gedächtnispreis, ihr Roman Die Katze und der General stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018. Heute lebt die Autorin in Berlin.

Zum Buch:

Eine Ausstellungseröffnung 2019 in Brüssel: Auf dem international anerkannten Parkett im königlichen Museum werden die Fotografien der georgischen Künstlerin Dina Pirweli gezeigt. Eingeladen zur Ausstellungseröffnung wurden auch die drei Freundinnen Dinas, die auf vielen der Fotografien der Meisterfotografin abgebildet sind. Eine der drei Freundinnen ist Keto. Sie ist Restauratorin und die Erzählerin. Anhand der Bilder und der Gegenwart der lange nicht gesehenen Freundinnen erinnert sie sich, bringt sie die Bilder zum Sprechen. Die gemeinsame Kindheit, die Pubertät, das langsame Erwachsenwerden und damit zunehmend auch die Wahrnehmung der Außenwelt, der georgischen Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, das ebenso brutale und gewalttätige wie verzweifelte Ringen um eine neue Gesellschaft und zugleich ihre ganz persönliche Sehnsucht nach Glück, Gemeinschaft, Leben – ihre gemeinsame Geschichte wird wieder lebendig.

Die beiden Mädchen Keto und Dina sind noch keine 10 Jahre alt, als sie sich finden und beste Freundinnen werden. Sie wohnen auf verschiedenen Seiten ein und desselben Innenhofes. In den folgenden Jahren kommen noch Nene und Ira hinzu. Zusammen bilden sie eine Viererbande. Obwohl sie in die gleiche Klasse gehen, kommen sie aus ganz unterschiedlichen familiären Verhältnissen. Keto kommt aus einer Akademikerfamilie; der Vater ist Physiker, die beiden Großmütter, die zusammen die Mutter ersetzen müssen, waren Übersetzerin und Lehrerin. Ihr Bruder, der nur sieht, wie Stellen, Positionen und Ämter erkauft werden, schließt sich einer Straßenbande an. Dina, voller Neugierde und Abenteuerlust, wächst dagegen ohne Vater auf. Ihre Mutter, die ihre beiden Töchter selbstständig und selbstbewusst erzieht, wollte eigentlich Sängerin werden, wurde dann aber Restauratorin. Nene will Konflikten lieber aus dem Weg gehen und vor allem gefallen, das erscheint ihr der einzige gangbare Weg angesichts eines Onkels, der sich als gefürchteter Mafiaboss Ansehen erzwungen hat, und eines Bruders, der dem Onkel nicht nur nacheifert, sondern ihn noch übertrumpfen will. Und schließlich die immer vernünftige Ira, die als letzte hinzukommt und unangefochten die Klassenbeste ist, kühl und rational denkt und sich ausgerechnet in Nene verliebt. Dina ist, solange sie noch in die Schule gehen, die Anführerin; sie gibt vor, was wie zu tun ist. So findet sie zum Beispiel einen Durchschlupf, durch den sich die vier nachts in den Botanischen Garten stehlen können, um sich dort voller Lust ins Wasserbecken zu stürzen. Und sie schlägt 1991 als angemessenen Ort für die Feier ihrer Freiheit nach dem bestandenen Abitur, die mit der Unabhängigkeit Georgiens von der Sowjetunion zusammenfällt, das Riesenrad vor. Aber als die vier sich in ihrer Gondel dem Höhepunkt nähern, sie schon fast oben angelangt sind, fällt mal wieder der Strom aus. Die neugewonnene Freiheit verwandelt sich in einen Alptraum.

Während es für Ira schon vor dem Abitur klar war, Jura zu studieren, Dina selbstverständlich Fotografin werden muss und eine Lehre beginnt, Nene sich verliebt und heiraten will, ist sich Keto ganz unsicher, was aus ihr werden soll, aber da die Werkstatt von Dinas Mutter ihr Geborgenheit gibt, entschließt sie sich schließlich, sich für das Fach Restaurierung an der Kunsthochschule zu bewerben.

Nino Haratischwilis Erzählkunst lässt die vier mit ihren Familien lebendig werden. Zugleich entsteht aus der Sicht dieser vier weiblichen Perspektiven ein komplexes Porträt einer Gesellschaft. Sie findet – und da lässt wohl auch die Dramatikerin Nino Haratischwili grüßen – einprägsame, starke Bilder für die entscheidenden Lebensstationen. Die Retrospektive des Werks von Dina Pirweli ist auch ein Rückblick auf das Leben von vier jungen Frauen, deren Vorstellungen von einem gelungenen Leben in den Mahlstrom der Geschichte geraten. Ihre Träume von einem zukünftigen Leben werden durch den Kampf um einen selbstständigen georgischen Staat auf den Prüfstand gestellt. Mafiöse wie patriarchale Machtstrukturen und brutale Gewalt zwingen Dina in den Freitod, Ira und Keto ins Ausland und Nene in immer neue Affären.

Die drei Freundinnen treffen nach rund zwanzig Jahren bei der Retrospektive der Bilder ihrer gemeinsamen Freundin wieder zusammen. Trotz aller Differenzen verbinden sie die gemeinsamen Erfahrungen; für wenige Stunden zumindest können sie wieder zu den jungen Frauen von damals werden und sich zusammen nachts in den Botanischen Garten – dieses Mal in Brüssel – stehlen.

Marion Victor, Frankfurt a.M.