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Der Lärm der Zeit

Autor
Barnes, Julian

Der Lärm der Zeit

Untertitel
Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Beschreibung

Im Mai 1936 verbringt der russische Komponist Dimitri Schostakowitsch seine Nächte im Treppenhaus. Angekleidet und mit einem kleinen Koffer an seiner Seite. Er will seiner Familie den Anblick seiner Verhaftung ersparen, mit der er ständig rechnet, seit seine Oper Lady Macbeth von Mzinsk bei Stalin auf Missfallen gestoßen und er in Ungnade gefallen ist. Damit ist die Angst zum Begleiter in seinem Leben geworden; sie wird ihn nie wieder verlassen. In Der Lärm der Zeit zeigt Julian Barnes, was Diktatur und Totalitarismus in einem Menschen anrichten, dessen Schaffen unter ständiger Beobachtung und Beurteilung steht und der nie weiß, ob und wann „die Macht“ ihn ins Verderben stürzen oder durch Lob vernichten wird.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2017
Seiten
256
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-462-04888-9
Preis
24,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln«, »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet und 2016 mit dem Siegfried-Lenz-Preis für sein Gesamtwerk. Julian Barnes lebt in London.

Zum Buch:

Dass es kein richtiges Leben im Falschen geben kann, ist inzwischen ein Gemeinplatz. Aber was für ein Leben gibt es, wenn man dem Falschen, aus welchem Grund auch immer, nicht entgehen kann? Dieser Frage geht Julian Barnes in seinem Buch über Dimitrij Schostakowitsch nach, der während der Revolution aufwuchs, unter dem stalinistischen Terror zu Ruhm gelangte und die sogenannte Tauwetterperiode unter Chruschtschow erlebte. Der Komponist lebte in einem System, das Künstlern ihre Arbeit nur erlaubte, wenn sie die staatlich vorgegebenen Normen für sozialistische Kunst erfüllten und in der es so etwas wie künstlerische Freiheit (wie Freiheit überhaupt) nicht gab.

1936 zählt Schostakowitsch zu den bekanntesten Komponisten der Sowjetrepublik. Dass er ab und an Auftragswerke zum Lobe von Partei und Staat schreibt, gehört zu einem System dazu, das jedes Werk vor seiner Aufführung der Zensur unterwirft und in dem nur genehme Komponisten Notenpapier bekommen. Seine zweite Oper, Lady Macbeth von Mzinsk, ist im In- und Ausland ein großer Erfolg – bis Stalin in Begleitung hochrangiger Funktionäre während einer Aufführung seine Loge verlässt und geht. Über Nacht kippt die Stimmung gegen den Komponisten. Nachdem die Prawda unter dem Titel „Chaos statt Musik“ einen großen Artikel gegen seine Person und sein Werk verfasst, ist er sozusagen Freiwild geworden. Die Abstufungen seiner Gefährdung kann er den Formulierungen öffentlicher Verlautbarungen entnehmen. Sie reichen von „…um ihn aus dem Komponistenverband auszuschließen“, „…ihm die Möglichkeit zu komponieren und aufzutreten zu nehmen“,bis „…ihm das Leben zu nehmen“.

Schostakowitsch wird mehrfach zu Verhören vorgeladen und rechnet damit, von Stalins Schergen abgeholt zu werden. Da er seiner Familie den Anblick einer überraschenden Verhaftung ersparen will, verbringt er seine Nächte angekleidet, einen kleinen Koffer mit dem Notwendigsten an seiner Seite, im Treppenhaus. Nach diesen Nächten ist die Angst endgültig zum beherrschenden Lebensgefühl geworden und wird ihn nie wieder verlassen. Nicht, als er wieder in Gnaden von der „Macht“ aufgenommen wird, und auch nicht, als nach Stalins Tod die Verhältnisse angeblich besser werden. Wer nie Gewissheit hat – wird man vorgeladen, wird man freigelassen, wird man erneut verhaftet und warum? – bleibt an die Angst gebunden, wird niemals mehr frei sein.

Ironie ist für Schostakowitsch die einzige Möglichkeit, sich nicht nur als Feigling zu fühlen und ein wenig Selbstachtung zu bewahren. Sie ist seine Zuflucht – aber wer erkennt das? Die in die „offizielle“ Musik eingeschobenen Passagen seiner Verzweiflung mochten einige wenige Freunde und Zeitgenossen wahrnehmen, aber wer im In- und Ausland erkannte, dass sich hinter dem mit Preisen und Auszeichnungen überhäuften Komponisten, der das Loblied auf Stalin und die Errungenschaften der Revolution gesungen hatte, ein Verzweifelter befand, der im Spinnennetz der „Macht“ zappelte, weil er, um leben und arbeiten zu können, nicht er selbst sein konnte? Das war die Paradoxie seines Lebens: „Statt ihn umzubringen, hatten sie ihn leben lassen, und indem sie ihn leben ließen, hatten sie ihn umgebracht.“ Erstaunlich bleibt, dass seine künstlerische Produktivität ihn selbst in den allerschlimmsten Zeiten nicht versiegte.

Julian Barnes hat eine großartige Charakterstudie eines Menschen unter einem totalitären System geschrieben und einen bewegenden Roman, der jedes schnelle Urteil des Lesers in Frage stellt. Er schreibt in der dritten Person Singular, aber es gibt keinen allwissenden Erzähler. Der Text verlässt Schostakowitschs Perspektive nie, ist nie schlauer als sein Protagonist. Der Leser lebt in dessen Kopf, in dem sich die Gedanken wie Mühlräder drehen.

Obwohl das Zentrum des Buches die Musik ist, wird kein einziges Musikstück beschrieben. Dafür greift das Buch selbst eine musikalische Form auf: es ist in ein Vorspiel, drei Sätze und eine kurze Reprise gegliedert, variiert sein Grundthema in jedem Abschnitt erneut – wie eine Sonate. Barnes Sprache ist elegant und voller Ironie und zieht den Leser unmittelbar hinein in die Nöte eines Menschen, der nichts so sehr wünscht, wie in Frieden zu leben, und mit Entsetzen und Selbstekel feststellen muss, dass er Opfer und Täter zugleich geworden ist. Der Lärm der Zeit ist ein großartiges, bewegendes und fesselndes Buch – unbedingt empfehlenswert!

Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt