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Blut und Feuer

Autor
Wesjoly, Artjom

Blut und Feuer

Untertitel
Roman. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Mit einem Nachwort von Jekatherina Lebedewa
Beschreibung

Wer einen Roman mit klarem Handlungsverlauf, Anfang und Ende erwartet, liegt bei Blut und Feuer falsch. Dass dieser Bürgerkriegsroman aber mehr ist als weißes Rauschen aus der Vergangenheit, merkt der Leser schon bald: Eine einmalige Symbiose von Form und Gegenstand – den undurchsichtigen Wirren des russischen Bürgerkriegs mit seinem Hunger, seiner Kälte und seinen Saufgelagen in all seiner Rauheit und Vielstimmigkeit.

Das Buch erschien zwischen 1932 und 1936 unter dem Titel Russland in Blut gewaschen; danach gab es einige zensierte Ausgaben. Wegen der vulgärsprachlichen Elemente ist der Roman in Russland bis heute nicht vollständig erschienen. 1987 gab es bereits eine erste Übersetzung von Thomas Reschke, aber erst jetzt ist der Roman einschließlich der zensierten Textpassagen in seiner ganzen Vielstimmigkeit zu lesen – und nur zu empfehlen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Aufbau Verlag, 2017
Seiten
640
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-351-03674-4
Preis
28,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Artjom Wesjoly, geboren 1899 in Samara an der Wolga, hieß eigentlich Nikolaj Kotschkurow. Seitdem er 14 Jahre alt war, arbeitete er in einer Fabrik, 1917 unterstützte er die Bolschewiki. In seiner Parteifunktion erlebte er den Bürgerkrieg und kämpfte ab 1919 selbst in der Roten Garde. In journalistischen Reportagen und literarischen Texten wandte er sich gegen die Gewalt aller Bürgerkriegsparteien, der Roten wie der Weißen, aber auch gegen die anarchistische grüne Partisanenbewegung und die Willkür in der jungen Sowjetunion. Er studierte am Moskauer Literaturinstitut und lernte wichtige Vertreter der Avantgarde wie Waleri Brjussow, Welemir Chlebnikow und Andrej Bely kennen. Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Journalist reiste er viel und war selbst Augenzeuge des Baueraufstands gegen die Lebensmittelkontributionen und seiner Niederschlagung. 1937 dann wurde er wegen des Vorwurfs der „Konterrevolution“ verhaftet und ein Jahr später erschossen.

Zum Buch:

Wer einen Roman mit klarem Handlungsverlauf, Anfang und Ende erwartet, liegt bei Blut und Feuer falsch. Dass dieser Bürgerkriegsroman aber mehr ist als weißes Rauschen aus der Vergangenheit, merkt der Leser schon bald: Eine einmalige Symbiose von Form und Gegenstand – den undurchsichtigen Wirren des russischen Bürgerkriegs mit seinem Hunger, seiner Kälte und seinen Saufgelagen in all seiner Rauheit und Vielstimmigkeit.

Die Geschichten und Etüden wechseln sich ab, mehr oder weniger abgeschlossen, mit ganz unterschiedlichen Protagonisten. Mal wird ihr Schicksal bis zu ihrem Tod erzählt, dann wieder verliert sie die Erzählung aus dem Auge, bis sie irgendwann unvermittelt wieder auftauchen, unberechenbar und verwirrend wie der Krieg. Der Schauplatz des Romans ist ausschließlich das ländliche Russland. Da geht es um das alltägliche Leben auf dem Dorf vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, der Revolution und des Bürgerkriegs, um die Versuche, große Ideen an die Bauern zu vermitteln und um den Widerstand der Land- gegen die hohen Lebensmittelabgaben für die Stadtbevölkerung, die ihnen das Leben unmöglich machen.

Da ist zum Beispiel die Geschichte von Ilko und Fenka, junge Partisanen, ein Liebespaar. Ihre Gruppe plant einen Überfall auf ein Gefängnis, um die gefangenen Genossen aus den Händen der weißen Soldaten zu befreien. In letzter Minute geraten Ilko und Fenka selbst in Gefangenschaft. Ilko wird erpresst: sollte er seine Kameraden nicht verraten, würde Fenka vor seinen Augen von den Soldaten vergewaltigt werden. Als Ilko ansetzt, seine Kameraden und das geplante Unternehmen zu verraten, erschießt ihn Fenka mit einem Revolver, den sie geschickt dem Soldaten stiehlt, der sie bereits zu vergewaltigen begonnen hat. Kurz darauf beginnt der siegreiche Überfall.

Aber die kompromisslose Hingabe an eine „Sache“ ist eher die Ausnahme bei den meist männlichen Protagonisten. Da geht es nicht um „die Sache“, sondern darum, lebend aus dem Durcheinander herauszukommen, genug zu essen zu haben und im besten Falle sogar Schnaps und Frauen. Wie in der Groteske über Maxim und Waska, die im Rausch den Abmarsch ihrer Partisanengruppe verpassen: Sie werfen Bomben, stehlen ein Auto, jagen wild durchs Land, nehmen aus Jux eine alte Frau mit, deren Sorge, wie sie denn je wieder in ihr Dorf kommen soll, für Erheiterung sorgt. Schließlich bringen sie das Auto auf einem Hof unsanft zum Halten und tauschen es beim Bauern gegen Verpflegung inklusive Schnaps und Frauen. In einer Umgebung, in der jede Stunde die letzte sein kann, haben sie sich entschieden, ihren Lebensrausch im Voraus zu erledigen.

Ein eindeutiges Engagement für eine der Seiten gibt es nicht. Zu satirisch wirkt die Wiedergabe politischer Reden, zu lebendig werden die Schelme und Schwejks gezeichnet, denen es gelingt, im allgemeinen Ausnahmezustand das Beste für sich herauszuholen, oder die Träumer, die wie Kasimir Stanislawowitsch, der trotz allem Durcheinander seiner Leidenschaft für Singvögel frönt, den Ernst der Lage nicht sehen wollen – bis ihr ein gewaltsames Ende bereitet wird. Aber auch die antiteleologische Erzählweise, die Offenheit und Vielstimmigkeit weist Wesjolys ganzen Roman als Pikareske aus, die dem Krieg keine sinnstiftende Funktion zugesteht.

Dialoge, Stimmen und Szenen prägen die Form des Romans. Blut und Feuer macht die Wahrnehmung des Kriegsteilnehmers anschaulich, der den Krieg in Fragmenten erlebt und nicht wie auf dem Reißbrett das Ganze überblickt. Die Sprache beeindruckt – dank Reschkes Übersetzung auch in der deutschen Fassung – durch ihren Variantenreichtum. Die Register wechseln zwischen Flüchen, Zoten, ländlicher Umgangssprache und lyrischen Einsprengseln. Die Charaktere kommen mit ihren sprachlichen Eigenheiten zu Wort; ihre Briefe werden unkommentiert wiedergegen. Dazwischen finden sich, typografisch abgesetzt, wie Gedichte atmosphärische Beschreibungen des Erzählers.
Das Nachwort von Jekatherina Lebedewa bietet einen historischen und biografischen Überblick über den Kontext des Romans. Der Roman erschien zwischen 1932 und 1936 unter dem Titel Russland in Blut gewaschen; danach gab es einige zensierte Ausgaben. Wegen der vulgärsprachlichen Elemente ist der Roman in Russland bis heute nicht vollständig erschienen. 1987 gab es bereits eine erste Übersetzung von Thomas Reschke, aber erst jetzt ist der Roman einschließlich der zensierten Textpassagen in seiner ganzen Vielstimmigkeit zu lesen – und nur zu empfehlen.

Alena Heinritz, Graz