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Die Welt der verlassenen Orte

Die Welt der verlassenen Orte

Untertitel
Texte von Peter Traub. Fotos von Peter Untermaierhofer, Dan Marbaix, Jordy Meow u.a.
Beschreibung

Tschernobyl, die Goldgräberstadt Bodie, die Miniaturinsel Hashima oder die Walfangstation Grytviken in Südgeorgien. Diese Orte haben eines gemeinsam: sie wurden allesamt verlassen, aufgegeben, geräumt. Dieser Bildband versammelt in unvergleichlichen Fotografien mehr als ein Dutzend solcher Orte und zeigt auf beeindruckende Weise, was übrig bleibt, sobald der Mensch sich einmal abgewandt hat.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Mitteldeutscher Verlag, 2014
Seiten
240
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-95462-031-9
Preis
29,95 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Peter Traub lebt in Leipzig. Er hat ein Studium an der Hochschule für Schauspielkunst in Berlin sowie am Literaturinstitut Leipzig absolviert und arbeitet als freiberuflicher Journalist und Autor.

Zum Buch:

Die Düne reicht bis knapp unter den Türsturz. In den angrenzenden Zimmern steht der Sand teilweise schulterhoch, drängt gegen Wände oder rieselt an manchen Stellen wieder zu den rahmenlosen Fenstern hinaus. Hundert Jahre zuvor, im Frühjahr 1908, hob ein einheimischer Bahnarbeiter in Kolmanskuppe, im damaligen Deutsch-Südwestafrika, einen „hübschen Stein“ auf, wischte ihn mit seinem Schweißtuch sauber und zeigte ihn seinem Vorgesetzten. In den folgenden Jahren entwickelte sich der einstige Wüstenflecken zu einem der reichsten Orte des gesamten Kontinents, in dem es alles gab, was man mit Diamanten kaufen konnte. Das Trinkwasser wurde eigens von Kapstadt eingeschifft. Wie auch der Champagner und das Schwarzbrot. Es gab Grammofone, Badewannen, Wasserklosetts. Kasinos. Es gab einen Kegelklub, der sich „Gut Holz“ nannte und in den einschlägigen Etablissements wurden die Damen wie Königinnen hofiert und mit Steinen bezahlt. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs übernahmen die Briten die zusehends unprofitable Anlage, die 1930 schließlich geschlossen wurde. Zurück blieb der Sand.

„Screw Coaster“ steht in verblassten Lettern über dem Eingangsbereich der ehemals hochmodernen Achterbahn. Der höchste Baum hat mittlerweile das Niveau des ersten Loopings erreicht, auf der einstigen Paradestraße platzt der Beton auf und vom Turm des rosafarbenen Märchenschlosses brechen Dachschindeln ab. Japans Antwort auf das 1953 in Anaheim, Kalifornien eröffnete Disneyland, der Vergnügungspark Nara, zog über zwanzig Jahre lang Scharen begeisterter Zuschauer an, die sich auch ohne Donald Duck und Micky Mouse prächtig amüsieren konnten. Bis zu dem Tag, als 1983 Tokio Disneyland seine Pforten öffnete und alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Seitdem steht der einst legendäre „Screw Coaster“ still und auf dem riesigen Parkplatz von Nara wächst Rasen.

Die Decke des riesigen Hallenbads liegt in dem leergepumpten Schwimmbecken. Im Musiksaal eines Schulgebäudes steht ein staubbedeckter Flügel vor verlassener Tribüne. Vom Rost zerfressene Wippen und Rutschen, die wie moderne Kunstwerke anmuten, erinnern daran, dass dies hier einmal ein von lautem Kinderlachen erfüllter Spielplatz gewesen ist. Die Bewohner der Stadt Prypjat in der Ukraine wurden am 27. April um die Mittagszeit aufgefordert, sich auf drei Tage Abwesenheit einzustellen, da es im Kernkraftwerk des Nachbarorts Tschernobyl einen Unfall gegeben habe. Sie sollten nie wieder zurückkehren.

Manchmal sprechen Bilder eine solch eindeutige Sprache, dass nur weniger Erklärungen bedarf, die Hintergründe dieser stummen Zeugen mit dem Gesehenen zu verbinden. Die beeindruckenden Bilder renommierter Fotografen, die dieser Band vereint, demonstrieren auf beispiellose Weise, wie der Verfall von allem von Hand Erschaffenen wieder Besitzt ergreift, wenn der Mensch sich erst einmal abgewandt und die Orte sich selbst überlassen hat.

Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln