Zum Buch:
1959 geht der zwanzigjährige Michel Contat aus Lausanne nach Paris, um Literatur zu studieren. Wie für so viele ist die französische Hauptstadt auch für ihn Ziel jugendlicher Träume von einem freien, ungebundenen Leben. Paris ist die Stadt der Cafés, der Jazzlokale, der Philosophen, des Theaters und der Literatur. Contats Vorbild ist der Waadtländer Autor Ramuz, in dessen 1938 verfassten Bericht über einen Aufenthalt im Jahr 1902 er sich wiederfindet, trotz der zeitlichen Distanz. Doch die Wirklichkeit im Jahr 1959 ist ernüchternd. Contats Zimmer ist ungeheizt, das wenige Geld, das er vom Vater bekommt, reicht kaum zum Nötigsten, das Studium begeistert ihn nicht, und wie schon zu Hause stellt er fest, dass er nicht der Typ ist, auf den die Mädchen fliegen. Zum Glück wohnt sein Jugendfreund Michel Thevóz im Nachbarzimmer der Pension. Der ein Jahr ältere Michel wird Contats Mentor. Leidenschaftlich diskutieren die beiden über Philosophie, lesen alle Zeitungen, deren sie habhaft werden können, gehen in Jazzclubs und ins Theater. Sie begeistern sich für das Werk von Sartre, für den Contat in späteren Jahren arbeiten und über den er einen Film drehen wird. Und sie demonstrieren gegen den Algerienkrieg. Contat engagiert sich im Widerstand gegen den Krieg, und sein Parisaufenthalt endet mit seiner Ausweisung.
Beim Lesen fühlt man sich, als liefe ein früher Schwarzweißfilm von Godard oder Truffaut vor dem inneren Auge ab. Was den Text daran hindert, ins Klischee abzugleiten, sind die Reflexionen des Autors. Als Bewohner der französischsprachigen Schweiz hat er zwar mit der Landessprache keinerlei Schwierigkeiten, allerdings machten „’die Archaismen’, die in unseren eigenen Ohren unseren Charme ausmachen, (…), uns in Paris zu lächerlichen Tölpeln.“ Als ihn sein Vater, der die Familie früh verlassen hat und in Paris das Image eines Bonvivant kultiviert, zu einer Reise nach Berlin einlädt, um ihm die linken Ideen auszutreiben, nutzt Contat die Zeit, um im Berliner Ensemble in Ost-Berlin die Inszenierungen der Brecht-Stücke anzusehen. Über das Wesen seiner Freundschaft zu Michel Thevóz, der ihm in Alter, Entwicklung und Bildung weit voraus ist, sagt er: „Unsere Freundschaft hatte sich ein wenig durch Zufall ergeben, und ich könnte nur wie Montaigne über seine Freundschaft zu La Boétie sagen: Weil er war, weil ich war’.
In Paris 1959 lässt Michel Contat auf nur etwas über 80 Seiten eine verschwundene Welt wiedererstehen, in die man mit großem Vergnügen eintaucht, um verwundert festzustellen, wie nah und gleichzeitig fern diese Zeit ist. Es wäre spannend zu wissen, wie junge Leser den Text empfinden.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt