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Autor
Ruurs, Margriet; Badr, Nizar Ali

Ramas Flucht

Untertitel
Deutsch-arabische Ausgabe. Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther. Arabischer Text von Falah Raheem. Ab 5 Jahre
Beschreibung

Wenn auch die mediale Präsenz abgenommen hat, so leben diese Menschen, die wir Flüchtlinge nennen, schon eine ganze Weile unter uns, untergebracht in Turnhallen, leerstehenden ehemaligen Firmengebäuden, Hangars oder – wenn sie Glück haben – als Familie in einer eigenen kleinen Wohnung.

Mit Ramas Flucht bekommen wir ein wunderbares und ganz besonderes Kinderbuch in die Hand, das es auf eine so schlichte wie fantasievolle Weise schafft, uns eine berührende Geschichte zu erzählen, die fast ohne Worte auskommt.
(zwei ausführliche Besprechungen unten)

Verlag
Gerstenberg Verlag, 2017
Format
Gebunden
Seiten
48 Seiten
ISBN/EAN
978-3-8369-5973-5
Preis
12,95 EUR

Zum Buch:

Besprechung I
Längst ist sie abgeebbt, die Welle der ständigen Nachrichten über Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und vielen afrikanischen Ländern, deren Namen uns oft wenig sagen. Wir haben uns gewöhnt an die Bilder aus Lampedusa, aus der Türkei und Griechenland, und auch die Politik hat gerade andere Themen als die nicht abreißenden Ströme derer, die in ihrem eigenen Zuhause nicht mehr sicher sind oder ihre Familie nicht satt kriegen und deshalb aufbrechen ins Ungewisse.

Wenn auch die mediale Präsenz abgenommen hat, so leben diese Menschen, die wir Flüchtlinge nennen, schon eine ganze Weile unter uns, untergebracht in Turnhallen, leerstehenden ehemaligen Firmengebäuden, Hangars oder – wenn sie Glück haben – als Familie in einer eigenen kleinen Wohnung.

Die Erlebnisse ihres Weges tragen sie in sich, ohne eine Wahl, sich gegen ihre Geschichte zu entscheiden. Wir hier in Deutschland haben jederzeit die Wahl, ob wir uns mit dem Thema Menschen in Not gedanklich beschäftigen wollen. Das ist nur eines der vielen Privilegien, die wir haben, die wir satt und in einer Zeit des Friedens in Deutschland aufgewachsen sind. Vielleicht konnten unsere Eltern oder Großeltern uns noch vom Krieg erzählen, von Hunger, Nächten der Angst oder Flucht. Wir können unseren Kindern also nur noch aus zweiter oder dritter Hand davon berichten, was es bedeutet, sein Zuhause zu verlieren.

Mit Ramas Flucht bekommen wir ein wunderbares und ganz besonderes Kinderbuch in die Hand, das es auf eine so schlichte wie fantasievolle Weise schafft, uns eine berührende Geschichte zu erzählen, die fast ohne Worte auskommt.

Der 54-jährige syrische Künstler Nizar Ali Badr verwandelt Kieselsteine in Bilder und Bilder in Geschichten. Die niederländische Kinderbuchautorin Margriet Ruurs stieß im Internet auf die auffälligen Steinbilder des Syrers, und viele Monate später und mit Hilfe einer pakistanischen Freundin gelang es ihr, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Sie fand heraus, dass viele der auf den Internet-Fotos dargestellten Bilder längst nicht mehr existieren, da Ali Badr mangels Klebstoff und Material die Szenen nach dem Fotografieren oft wieder auseinander nehmen musste. Gemeinsam planten sie dieses Buch, das in einem verständlichen und leise poetischen Text (auf deutsch und arabisch) die Geschichte des syrischen Mädchens Rama erzählt, die mit ihrer Familie ihre Heimat verlassen muss. Die einzelnen Szenen sind mit den wunderschönen Kieselbildern von Ali Badr bebildert. Die Steine scheinen auf unterschiedlichen Ebenen zu sprechen, einerseits durch ihre Anordnung als Menschen, Esel, Hütten, Boote, die trotz ihrer Abstraktion etwas sehr Lebendiges ausstrahlen, andererseits erinnert schon das Material an sich ganz subtil daran, dass Geschichten von Flucht und Vertreibung vermutlich so alt sind wie die Menschheit.

Ramas Flucht gibt Kindern ab 5 Jahren die Möglichkeit, sich in andere Welten, in das Leben eines anderen Kindes einzufühlen, behutsam und nicht bedrohlich. Wir müssen keine Angst haben, sie mit diesem vielleicht nicht fröhlichen, aber sehr menschlichen Thema zu überfordern. Das außergewöhnliche Buch kann eine Brücke sein, zwischen uns, unserem friedlichen Leben in Deutschland, und den Menschen aus Syrien, die bei uns im besten Falle ein neues Zuhause finden können. Dass Rama und ihre Familie aus einem fernen Land stammen, dass sie vermutlich einer anderen Religion angehören und eine andere Sprache sprechen, tritt in den Hintergrund. Was die Kinder und vorlesenden Erwachsenen beim Anblick der eindrucksvollen Szenen aus Kieselsteinen jedoch viel stärker empfinden, ist das Verbindende und Universelle der Begriffe Zuhause, Flucht, Hunger und Familie. Ramas Flucht findet hoffentlich seinen Weg in viele Klassen- und Kinderzimmer, um unser Einfühlungsvermögen und unsere Vorstellungskraft vom Leben der Anderen zu erweitern.

Larissa Sibicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt

Besprechung II
„‘Aufwachen Rama!‘ krähte jeden Morgen der Hahn, als wir noch zu Hause wohnten. Ich lag in meinem warmen Bett und hörte zu, wie Mama das Frühstück richtete – Brot, Joghurt und saftige rote Tomaten aus unserem Garten.“

Zu Beginn des Bilderbuches erinnert sich Rama an die unbeschwerte Zeit, die sie gemeinsam mit ihrem Bruder Sami, ihren Eltern und dem Großvater in einem Dorf auf dem Land verbrachte. „Aber das war damals. Und jetzt ist jetzt“, heißt es etwas später im Buch. Im Jetzt ist Krieg, Essen wird immer knapper, das Leben im Dorf immer beschwerlicher und lebensbedrohlicher. Viele Menschen sind bereits geflohen, und auch Ramas Familie verlässt eines Tages schweren Herzens ihr Zuhause. Wir erleben verschiedene Stationen und Situationen der langen, beschwerlichen und gefährlichen Reise und schließlich die glückliche Ankunft in einer sicheren Fremde mit: „Die Männer hatten keine Gewehre, es fielen keine Bomben und wir brauchten keinen Angst zu haben.“

Dieses großartige Bilderbuch hat mich sehr beeindruckt und berührt. Der einfache, klare und kindgerechte Text sowie die ungewöhnliche Bebilderung verschmelzen zu einem einzigartigen Kunstwerk und wecken beim Lesen und Betrachten starke Emotionen. Das Besondere an den Bildern ist ihre Entstehung: Nizar Ali Badr hat Steine in verschiedenen Größen, Formen und Farben arrangiert und dann fotografiert. Nach dem Fotografieren hat er die wundervollen Steinbilder wieder in ihre Einzelteile zerlegt und sie als Rohmaterial für neue Kompositionen verwendet.

Dieses Buch ist ein seltener Glücksfall, ein gelungenes Zusammenspiel von Poesie und Ästhetik. Gerade in der Schlichtheit von Text und Gestaltung zeigt sich die Könnerschaft sowohl der kanadischen Autorin als auch des syrischen Künstlers, der noch immer in der Hafenstadt Latakia lebt. Ramas Flucht wird auf deutsch und arabisch erzählt. So wie jedes Wort von Margriet Ruurs wohl gesetzt und keines überflüssig ist, so setzt auch Nizar Ali Badr äußerst sparsam mal ein Stück Stacheldraht, mal ein Stöckchen oder einen Faden ein und lässt ansonsten nur die Steine sprechen. Das aufschlussreiche Nachwort von Margriet Ruurs klärt über ihre Motivation zu diesem Buchprojekt auf und gibt Einblick in manche Hürden, die es im Entstehungsprozess zu überwinden galt.

Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen & Café