Zum Buch:
Schmerz, Angst und Verletzungen können selbst erfahren, überliefert oder übertragen sein – ihre Intensität bleibt über Generationen die gleiche. Um sich über die Herkunft dieser Gefühle klar zu werden, geht Susanne Fritz den Spuren ihrer Mutter Ingrid nach. Aus Briefen, Tagebüchern, Fotografien und offiziellen Dokumenten setzt sie deren Kindheits- und Jugenderlebnisse der Jahre 1933 bis 1949 zusammen. Ein beeindruckendes Zeugnis echter Handreichungen, die dem Schmerzlichen der Familienvergangenheit nicht den Schmerz und den Gräueltaten nicht deren Grausamkeiten nehmen – und dennoch auf Versöhnung zielen.
Es ist der Abdruck des linken Zeigefingers ihrer Mutter, der der Tochter aus der Akte des Potulitzer Arbeitslagers entgegenblickt: Diese Spur, die der Körper der damals 14-Jährigen hinterlassen hat, springt der Tochter mehrere Jahrzehnte später ins Auge und fährt ihr schmerzhaft in die Glieder. Er besagt: Ich habe Kälte, Hunger, Willkür und Gewalt wirklich erlebt. Er spricht und steht damit für all das Ungesagte, das die Mutter nie erzählen konnte, weil es zu schmerzlich gewesen wäre, diese Erinnerungen in Worten wieder aufleben zu lassen.
Das Leben der kleinen Inge beginnt in der Bäckerei der Eltern in Swarzędz, deutsch Schwersenz, in der polnischen Provinz Posen als jüngste Tochter einer deutschstämmigen Familie – und ein Bild ist hier besonders eindringlich: Als kleines Mädchen hat Inge mit ihrem Vater Georg immer wieder Brot in ein nahe gelegenes Arbeitslager geliefert. Jahre später auf der verzweifelten Suche nach Essbarem sieht die Jugendliche, jetzt selbst in einem Arbeitslager Internierte, die Hände vor sich, die sich ihr, dem kleinen Mädchen, damals auf der Ladefläche des väterlichen Lieferwagens genähert hatten. Diese Hände auf der Suche nach heruntergefallenen Brotkrumen sahen kaum mehr menschlich aus, so abgemagert waren sie.
Täter und Opfer zugleich ist die Mutter, obwohl sie ein Kind und später Jugendliche war in diesen Zeiten. Ihre Identität ist keine selbstverständliche, als Tochter deutschstämmiger Eltern in Polen ist sie alles und nichts, bleibt auch nach dem Krieg in Deutschland Außenseiterin, ein Leben lang nie dazugehörend. Eine solche Vergangenheit und ein solches Leben hinterlassen Spuren in einer Frau – und in ihren Kindern. Mit viel Mut hat sich Susanne Fritz dem auf sehr ehrliche Weise gestellt.
Susanne Rikl, München