Zum Buch:
Bei einer samstagnachmittäglichen Kaffeerunde im Hause des Schriftstellers Caspar Waidegger entsteht in der Diskussion um Kunst und Unterhaltung die erste Szene eines ‚Kitsch-Romans’. Dabei hält sich Waideggers junge Geliebte Laura wie immer diskret zurück, während ihr Studienkollege Fabian sein Interview mit dem sonst eher unzugänglichen Autor bekommt. So beginnt Olga Martynovas zweiter Roman, in dem sie die Textur der Liebe neu erfindet und dabei die Grenzen zwischen Poesie, ernster und unterhaltender Literatur aufhebt.
Man könnte meinen, dass der Roman ganz linear einen Jahreslauf vom Frühling bis in den Winter hinein erzählt. Doch schon im ersten Teil entfalten sich mehrere Ebenen. Da ist die Welt der Menschen, die in den Zeitkategorien Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft denken. In der Gegenwart erlebt man den Alltag des Schriftstellers Caspar Waidegger und wandert mit ihm durch seine geistigen Welten. Waidegger erinnert sich an die Kindheit mit der Mutter, die Schauspielerin war, an die Ehe mit Cordula, die Geburt der behinderten Tochter Maria, die in einem Heim lebt, an die Bedeutung, die Frauen in seinem Leben hatten; er sinniert über die Gegenwart, seine Liebe zu Laura, die als Studentin über sein Werk zu schreiben begann und jetzt über sein Werk promoviert. Und er malt sich die Zukunft aus, wie Laura nach seinem Tod seine Bibliothek verwalten und er ein Stück weit in seiner jungen Witwe fortleben wird. Dabei arbeitet Waidegger die ganze Zeit hindurch kontinuierlich an dem Kitsch-Roman weiter, dessen erste Szene sich die Kaffeegesellschaft unter dem Arbeitstitel Zwischenfall am See ausgedacht hat. Laura erzählt ihrerseits von der Beziehung, in der sie sich als deutlich Jüngere abhängig von seiner Gunst und Zuwendung erlebt. Parallel zur Welt der Menschen taucht man über das Journal eines Engelsüchtigen aber auch in die Welt der Engel ein, die alle Menschen zu allen Zeiten begleiten. In dieser Welt besitzt Zeit keine Struktur, hier ereignet sich alles gleichzeitig.
Keine dieser vielen verschiedenen Geschichten gleicht der anderen, durch die Entfaltung verschiedener Ebenen im Erzählen und in der Sprache wird die Vielfalt des Lebens und ihres Movens, der Liebe, anschaulich. Schon in Martynovas erstem Roman Sogar Papageien überleben uns ist diese Facettierung von Erzählen und Erzähltem angelegt, die ihre Texte zu still funkelnden Kostbarkeiten macht. Im Engelherd scheinen die Ebenen beinahe zu tanzen, sie überlagern und verbinden sich zu einem neuen Ganzen, das die Gesetze von Zeit und Erzählen aufzuheben beginnt. Für dieses allein durch Sprache hervorgebrachte Wunder ist im Roman kein konkreter Zeitpunkt auszumachen, es passiert einfach im Kopf jedes Lesenden auf einer anderen Seite. Und dieser Moment ist wie der Blick in eine andere Welt, vielleicht sogar in die der Engel.
Susanne Rikl, München